Die Damen zogen sich in den Salon zurück und überließen Jury und Melrose ihrer Flasche Portwein. Eigentlich war Lady Ardrys Abgang alles andere als ein Rückzug. Vivian schaffte es mit Mühe und Not, sie aus dem Eßzimmer zu bugsieren; aber dann blies Agatha noch einmal zum Angriff und tauchte triumphierend wieder auf, um nach irgendwelchen Gegenständen, die sich anscheinend verselbständigt hatten, zu suchen – nach Taschentüchern, Knöpfen und dem Armband, das ein Häufchen auf dem Tisch bildete, als wäre die ganze rot-grüne Pracht nichts weiter als eine Handvoll Oliven.

Nachdem sie mit ihrer Beute abgezogen war, meinte Jury, «Das war aber ein sehr großzügiges Geschenk, Mr. Plant.»

«Ich glaube, die symbolische Bedeutung der roten und grünen Steine ist ihr entgangen. Die Weihnachtsfarben. Ich hielt das für eine hübsche Idee.» Er blickte auf seine Zigarrenspitze und blies daran, um sie zum Brennen zu bringen.

«Entschuldigen Sie die Frage, aber was haben Sie von ihr bekommen?»

«Nichts.» Plant lächelte. «Sie schenkt mir nie was. Angeblich spart sie für ein besonders großartiges Geschenk. Was das wohl sein wird? Ein neuer, von der IRA ausgestatteter Wagen?»

Jury grinste und meinte dann, «Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht, was diese Morde betrifft, und würde gerne mit Ihnen darüber sprechen.»

«Ich höre.»

«Also, am bemerkenswertesten finde ich ihre Auffälligkeit. Wer denkt sich so was aus?»

«Jemand ganz Abgebrühtes. Vielleicht auch ein Psychopath, aber man würde nicht so schnell dahinterkommen. Die Morde sind unglaublich öffentlich. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wenn er jemanden aus dem Weg räumen will, warum verabredet er sich dann nicht mit ihm an einem weniger öffentlichen Ort?»

Jury zog das zusammengefaltete Titelblatt des Weatherington Chronicle aus seiner Jackentasche. «Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, warum.» Er klopfte mit dem Finger gegen das Blatt. «Gasthof-Morde gehen weiter.» Es folgte ein langer Bericht über den Mord an Ruby Judd, im Anschluß daran ein Vergleich mit dem Mord an Creed. «Esscheint ein bestimmtes Muster zu geben. Die Sache mit den Gasthöfen kann relevant sein oder auch nicht –»

Melrose Plant blies einen Rauchkringel. «Diese Feststellung, Inspektor, faßt wahrscheinlich eine Million Jahre philosophischen Denkens zusammen: ‹Es kann relevant sein oder auch nicht.›»

«Mr. Plant, manchmal bin ich froh, daß ich nicht Ihre Tante bin.»

«Wenn Sie so weitermachen, kann ich sie bald nicht mehr auseinanderhalten.»

«Seien Sie vorsichtig, Mr. Plant, ich könnte Ihr Alibi platzen lassen.»

«Das würden Sie nicht tun.»

«Wir haben doch eine ganze Auswahl an Morden, nicht? Sie haben doch nur für den an Creed ein Alibi.»

«Konzentrieren wir uns lieber auf unsere Theorien: Gibt es in diesen Gasthöfen, etwas, hinter dem der Mörder her sein könnte? Gold in einem Sekretär? Oder vielleicht besitzt Matchett, ohne es zu wissen, das von Hogarth gemalte Wirtshausschild – klingt aber ziemlich unwahrscheinlich. Oder ist diese Sache mit den Gasthöfen nur zur Ablenkung inszeniert?»

«Aha, daran dachten Sie also auch schon? Manchmal gibt es ja für einen Mord, der in aller Öffentlichkeit begangen wurde, die wenigsten Zeugen. Ein Mörder, der seine Leichen nicht versteckt, versucht vielleicht sein Motiv zu verbergen.»

«Abgesehen von der Leiche Ruby Judds. In ihrem Fall gibt es gleich zwei Abweichungen von dem Schema. Sie wurde begraben, und sie war keine Fremde.»

«Die Abweichungen sind immer am interessantesten. Bei den andern war es ihm vielleicht gleichgültig, wann sie entdeckt wurden, nicht aber bei Ruby.»

«Aber warum hat er Ruby Judd überhaupt umgebracht?» Melrose ließ sein Glas kreisen.

«Vielleicht wußte sie etwas über einen im Dorf?»

«Erpressung? Du lieber Himmel, was haben wir nicht alles auf dem Gewissen!»

Jury gab nur eine indirekte Antwort darauf. «Einiges deutet daraufhin, daß Ruby auch mal was mit Darrington gehabt hat.»

Plant wirkte erstaunt. «Tja, diese kleine Judd kam wirklich rum. Dieses pausbäckige Bauernmädel! Manche Männer haben schon einen seltsamen Geschmack!» Plant schüttelte den Kopf.

«Auch mit Marshall Trueblood.»

Melrose ließ beinahe die Portweinflasche fallen. «Das soll wohl ein Witz sein?»

Jury lächelte. «Nein, auch wenn sich ganz Long Piddleton über Trueblood lustig macht.»

«Ja, leider. Ich halte Scherze, die mit der Rasse, Religion oder den sexuellen Neigungen eines Mannes zu tun haben, für ziemlich abgeschmackt. Nicht, daß ich ihn besonders mag. Wenn er auf den Händen die Dorfstraße runterginge, könnte er nicht lächerlicher wirken.» Melrose schüttelte ungläubig den Kopf. «Trueblood hat also tatsächlich mit der kleinen Judd geschlafen?»

«Nur einmal, behauptet er. Aber in Truebloods Vergangenheit – genau wie in Darringstons – gibt es einige Dinge, die er wohl lieber für sich behalten würde, und diese Ruby Judd ist vielleicht dahintergekommen. Außerdem gibt es die Bicester-Strachans –»

«Ich persönlich würde Lorraine unter die Lupe nehmen. Sie wäre zu jedem Mord bereit, nur um ihren hochheiligen Ruf zu schützen.»

In diesem Augenblick tauchte Agatha wieder in dem Speiseraum auf, um sich auf dem laufenden zu halten; als Entschuldigung brachte sie hervor, sie brauche einen Tropfen Brandy gegen ihre quälenden Kopfschmerzen.

«Ruthven, bringen Sie mir doch bitte einen.»

Ruthven, der eben hereingekommen war, um das Buffet abzuräumen, wandte sich hoheitsvoll nach ihr um und sagte: «Mein Name wird Rivv’n ausgesprochen, gnädige Frau, Rivv’n wie Ihnen Ihre Lordschaft schon des öfteren erklärt hat.»

«Warum schreibt man ihn dann nicht so?»

«Ich schreibe ihn so.» Ruthven ging mit dem Tablett in der Hand in die Küche zurück.

«Unerhört», zischte Agatha Melrose an, «diesen Ton erlaubst du deinen Bediensteten? Und was habt ihr versucht, Lorraine Bicester-Strachan anzuhängen?»

Ruthven, der sich in der Küchentür noch einmal umgedreht hatte, brüllte beinahe: «Gnädige Frau, es heißt Bister-Strawn! Bister-Strawn!’» Daraufhin machte er wieder kehrt und verschwand in der Küche.

Agatha stand mit offenem Mund da.

Melrose glaubte alten Whisky gerochen zu haben, als ihn Ruthvens weihnachtlicher Atem streifte und grinste: «Agatha, Rivv’n hat dich angegriff’n.»

Sie drehte sich abrupt um und stapfte hinaus.

Plant setzte das Gespräch da fort, wo Agatha sie unterbrochen hatte. «Ich glaube, auf Bicester-Strachan selbst würde ich als letzten tippen. Ein netter, schachspielender alter Mann.»

«Ich habe nette, schachspielende alte Männer schon seltsame Dinge tun sehen. Aber wir haben ja auch noch Simon Matchett –»

Plants grüne Augen funkelten. «Und ob! Wenn ich nur etwas über diese schmutzige Sache mit seiner Frau wüßte, damit ich es Vivian unter die Nase reiben könnte; diesem ahnungslosen Mädchen.»

«Sind Sie da nicht ein bißchen voreingenommen, Mr. Plant?» Er wäre nicht der einzige, dachte Jury schuldbewußt. «Diese Heirat ist Ihnen wohl ein Dorn im Auge?»

«Sie kennen sie doch auch. Und können mir doch wohl nur beipflichten?»

Jury zog es vor, seinen Teller zu studieren. «Ich verstehe nicht, warum diese Verlobung, falls es überhaupt eine gibt, so in der Luft hängt?»

«Ich auch nicht. Diese sogenannte Verlobung ist Isabels Werk. Sie hat sie zusammengebracht, warum ist mir jedoch völlig schleierhaft wo Isabel doch Matchett so anhimmelt und allen Einfluß einbüßt, wenn das Vermögen an Vivians 30. Geburtstag nicht in ihre, sondern in seine Hände wechselt. Wirklich rätselhaft.»

«Nicht, wenn –»

«Wenn was?»

«Nein, nichts. Was halten Sie von der Geschichte mit dem Unfall ihres Vaters?»

«Komisch, daß Sie mich das fragen – ich habe oft darüber nachgedacht. Vivian scheint wirklich davon überzeugt zu sein, daß sie als Kind ein richtiger Rabauke war, daß sie sich ständig mit ihrem Daddy kabbelte und was sonst noch alles. Diese Story von dem kleinen Teufelsbraten ist Ihnen doch wohl auch etwas mysteriös vorgekommen? Vor allem, wenn man bedenkt, daß sie erst – lassen Sie mich mal nachrechnen – sieben oder acht Jahre alt war, als er starb. Pflegt man traumatische Kindheitserlebnisse nicht möglichst schnell zu verdrängen? Vivian scheint sich aber noch an jede Einzelheit zu erinnern, als wäre es erst gestern passiert. Wissen Sie, ich frage mich –» Melrose starrte nachdenklich auf die Spitze seiner Zigarre, bevor er die Asche abklopfte – «wer für sie das Bild vervollständigt hat.»

«Sie meinen, sie hätte sich dieses Bild von Isabel malen lassen?»

«Wer käme sonst in Frage? Von den Angehörigen lebt sonst keiner mehr.»

«Isabel muß einen Grund gehabt haben, weshalb sie Vivian diese Version von dem Unfall eingeredet hat. Und jetzt muß sie vielleicht dafür sorgen, daß an die Vergangenheit nicht gerührt wird.»

«Sie glauben doch nicht ernstlich, daß eine Frau diese Morde begangen haben könnte?»

«Sie sind ein sehr sentimentaler Mensch, Mr. Plant.»

Jury fragte ihn, ob er das Telefon benützen dürfe, und Melrose ging in den Salon, um den Damen Gesellschaft zu leisten.

Jury entschuldigte sich dafür, daß er Wachtmeister Pluck bei seinem Weihnachtsessen störe; er müsse aber dringend mit Wiggins sprechen.

Als er sein «Ja, Sir?» hörte, sagte Jury: «Hören Sie, Wiggins, wenn Sie mit dem Essen fertig sind, setzen Sie sich bitte mit der Polizei in Dartmouth in Verbindung und geben Sie für mich eine Liste von Namen durch. Wahrscheinlich müssen Sie sich dafür mit der Zentrale in Verbindung setzen.» Dann verlas Jury die Namen auf der Liste; alle waren vor sechzehn Jahren entweder Gäste oder Angestellte in dem Gasthof zur Ziege mit dem Kompaß gewesen.

Der arme Wiggins war nicht gerade begeistert. «Aber das sind 23 Namen, Inspektor. Von denen sind bestimmt nicht mehr alle aufzutreiben.»

«Ich weiß. Aber ein paar davon. Und vielleicht hat einer ein gutes Gedächtnis.» Er hörte ein knirschendes und dann ein mahlendes Geräusch. Wiggins hatte wohl gerade in eine Selleriestange gebissen. Er murmelte, daß er sich so bald wie möglich mit der Liste beschäftigen würde.

Als Jury den Salon betrat, war Agatha gerade dabei, ihren Rock auf einem durchbrochenen Kalamanderholzstuhl auszubreiten. Marshall Trueblood wäre bestimmt ohnmächtig geworden, hätte er ihre massige Gestalt darauf Platz nehmen sehen. Sie spielte an ihrem neuen Armband herum und sagte: «Das muß doch ziemlich teuer gewesen sein, Melrose?» Offenbar erinnerte sie sich nicht mehr an ihre frühere Andeutung, daß die Steine nicht echt seien.

«Ich kann dir ganz genau sagen, was es gekostet hat, Agatha –»

«Das schickt sich nicht, Melrose. Es ist wirklich sehr hübsch. Auch wenn es nicht alt ist wie Marjories Schmuck.»

«Wer ist Marjorie?» fragte Jury.

«Meine Mutter», sagte Melrose. «Sie besaß eine schöne Schmucksammlung.» Er starrte zur Decke. «Ich bewahre sie im Tower auf. Für 50 Pence können Sie ihn besichtigen, wenn Sie wollen.»

«Oh, versuch nicht dauernd, den Komiker zu spielen, mein lieber Plant. Es paßt nicht zu dir.»

Vivian erhob sich. «Melrose, es war ein wunderbares Essen. Aber jetzt muß ich leider gehen –»

«Warum denn, um Gottes willen?» fragte Melrose und erhob sich ebenfalls. «Du könntest doch noch ein bißchen bleiben und mithelfen, mein Alibi zu durchlöchern.»

«Melrose!» Vivian blickte ihn an, als wäre er ein ungezogenes Kind.

«Aber Agatha braucht doch Beistand –»

«Melrose, hör auf damit!» Vivian war offenbar wirklich etwas verstört.

Sie nimmt alles ein bißchen zu ernst, dachte Jury, nicht, daß diese Morde nicht ernst zu nehmen waren, aber Plant hatte doch nur versucht, die gedrückte Stimmung zu heben. Vielleicht gingen Dichter die Dinge so an. Dichter und Polizeibeamte. Aber nein, er hatte Sinn für Melroses Humor.

«Sie wollen gehen?» fragte Agatha. «Ich denke, ich bleibe noch ein Weilchen.»

«Aber du bist doch mit Vivian gekommen, liebe Tante. Willst du sie jetzt allein nach Hause gehen lassen?»

«Ich wage zu behaupten, Vivian ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen», sagte Agatha mit honigsüßer Stimme. «Inspektor Jury kann sie ja mitnehmen.»

Melrose lächelte. «Ich würde mir an deiner Stelle dem Inspektor gegenüber nicht zu viel herausnehmen, Tantchen.» Er stand vor seinem Kamin aus Marmor und blies Rauchkringel in die Luft.

Jury half Vivian in den Mantel, und Melrose begleitete sie zur Tür. «Nicht gerade fair von Ihnen, Vivian zu entführen und mich mit Agatha hier sitzenzulassen.»

«Fairness war noch nie meine Stärke, Mr. Plant.»

«Was kann ich Ihnen anbieten? Einen Drink? Oder Kaffee?»

Er beeilte sich, ihr klarzumachen, daß sein Besuch nicht gesellschaftlicher Natur war. «Danke, nichts. Ich möchte Ihnen nur noch ein paar Fragen stellen.»

Sie seufzte. «Schießen Sie los, Inspektor. Sie scheinen sich auch nie eine Pause zu gönnen.»

Jury zeigte sich empört. «Das ist auch nicht einfach bei vier Morden.»

«Tut mir leid», sagte sie und rieb sich die Arme, als wäre es plötzlich kalt um sie herum geworden. «Ich wollte die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Nur …» Sie setzte sich auf das Sofa und griff nach einer Zigarettenschachtel.

Jury hatte in dem Sessel ihr gegenüber Platz genommen. Zwischen ihnen stand ein kleiner Kaffeetisch. Irgendwie hatte er Angst, er könnte sich zu wohl fühlen. «Also – meine erste Frage: wie ich gehört habe, sind Sie mit Simon Matchett verlobt?»

Ihr Blick hatte für Jury etwas Gehetztes an sich, als sie ihm die Zigaretten über den Tisch reichte. Er gab ihr Feuer und zündete sich dann seine Zigarette an, auf ihre Antwort gespannt.

«Ja, doch, das stimmt wohl schon.» Sie erhob sich. «Ich hole mir was zu trinken. Trinken Sie doch auch was.»

Jury starrte auf das winzige, rotglühende Ende seiner Zigarette. «Whisky.»

Während sie zu dem Büfett ging und Gläser und Flaschen herausholte, schaute er sich etwas in dem Zimmer um.

Sie kam wieder zurück und sagte: «Was Simon betrifft, habe ich mich noch nicht ganz entschlossen.» Sie gab ihm sein Glas.

Er starrte darauf und fragte sich, ob die Flüssigkeit sich nicht gleich purpurrot färben würde. «Sie meinen, Sie wissen nicht, ob Sie ihn heiraten wollen? Was spricht denn dagegen?»

Sie stand vor ihm und blickte in Fernen, die er nicht ermessen konnte. «Weil ich nicht glaube, daß ich ihn liebe.»

Die Möbel, die Jury bis zu diesem Augenblick noch gar nicht wahrgenommen hatte, fingen plötzlich an, in der Dunkelheit zu schimmern. Er räusperte sich und fragte sich, ob er überhaupt in der Lage sei, einen verständlichen Satz hervorzubringen. «Wenn Sie ihn nicht lieben, warum wollen Sie ihn dann heiraten? Ich hoffe, Sie nehmen mir diese Frage nicht übel», fügte er rasch hinzu.

Vivian, die sich wieder ihm gegenüber gesetzt hatte, starrte auf ihr Glas und bewegte es wie eine Kristallkugel in ihren Händen. Dann zuckte sie die Achseln, als könne sie sich das alles selbst nicht erklären. «Man kriegt das Alleinsein auch mal satt. Und er scheint mich zu mögen –»

Jury setzte unsanft sein Glas ab. «Deswegen zu heiraten ist doch absolut blödsinnig.»

Sie riß die Augen auf. «Also wirklich, Inspektor! Welche Gründe würden denn vor Ihren Augen Gnade finden?»

Jury war von seinem Stuhl aufgestanden und ans Fenster getreten; er starrte auf den Schnee hinaus, der im Schein der Straßenlaterne zu Boden fiel. «Leidenschaft! Besessenheit! Sex, wenn Sie wollen. Von jemandem nicht die Finger lassen können, so was, in dieser Art!» Er drehte sich nach ihr um. «‹Sich mögen› – was für ein verwaschener Begriff! Haben Sie noch nie andere Empfindungen gehabt?»

Einen Augenblick lang schaute sie ihn einfach nur an. «Ich weiß nicht. Aber Sie anscheinend.»

«Lassen wir meine Person aus dem Spiel. Wieviel Geld werden Sie erben?»

«Eine Viertelmillion Pfund, falls Ihnen das weiterhilft.» Ihre Stimme klang ein paar Töne höher.

«Haben Sie schon mal daran gedacht, daß Simon Matchett hinter Ihrem Geld her sein könnte?»

«Natürlich. Jeder könnte das!»

«Ist das nicht etwas zynisch? Nicht alle Männer sind Mitgiftjäger. Frauen wie Sie –» Seine Gedanken drifteten zu dem Foto in seiner Schreibtischschublade – «fordern das Schicksal geradezu heraus. Sie wickeln sich in Ihre Verletzlichkeit ein wie in einen Mantel und sind dann baß erstaunt, wenn die Leute das ausnutzen.»

«Das ist wohl kaum Zynismus, was Sie da beschreiben.» Ihre Stimme klang wieder normal. «Das klingt eher poetisch.»

«Lassen wir die Poesie aus dem Spiel. Wie gut haben Sie Ruby Judd gekannt?»

Sie faßte sich an die Stirn. «Du lieber Himmel. Mit Ihnen zu reden ist ja atemberaubend. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht.»

«Sie kannten sie?»

«Ja, natürlich. Aber nicht besonders gut. Ich sah sie immer nur im Pfarrhaus.»

«Was hielten Sie von ihr?»

Als sie zögerte, sagte Jury: «Versuchen Sie bitte nicht, pietätvoll zu sein, Miss Rivington.»

«Na schön, ich fand Ruby nicht unsympathisch. Aber sie hatte diese Angewohnheit, immer den Kopf reinzustecken, wenn ich mit dem Pfarrer sprach. Sie war einfach zu neugierig. Überall war sie dabei. Quecksilber im Po. Wahrscheinlich platzte sie vor Energie. Sie soll hinter den meisten Männern im Dorf hergewesen sein: Oliver, wahrscheinlich auch Simon. Und sogar Marshall Trueblood, ob Sie’s glauben oder nicht. Vielleicht ist Melrose Plant der einzige, der ihr entgangen ist.» Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: «Apropos Mitgiftjäger» – ihr Lachen klang etwas gekünstelt – «bei Melrose wenigstens habe ich nicht den Verdacht.»

Es war die Art und Weise, wie sie das sagte. Jury starrte blind auf den Rest Flüssigkeit in seinem Glas. Hätte sie sich nicht einen andern aussuchen können, irgendeinen Robert Redford zum Beispiel?

«Isabel kann Melrose nicht ausstehen. Warum, habe ich noch nicht herausgefunden.»

Der Grund war ziemlich offensichtlich, wenn Isabel schon Simon für Vivian auserkoren hatte. Eine äußerst rätselhafte Sache: Welches Interesse konnte Isabel daran haben, daß das Geld, das sie sicherlich von Vivian bekommen würde, in die Hände eines Mannes fiele, den sie nicht wie ihre Stiefschwester unter dem Daumen hatte. Aber vielleicht hatte sie ihn ja unter dem Daumen! Der Gedanke, der Jury bei seiner Unterhaltung mit Plant gekommen war, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren.

«Was macht es Ihnen schon aus, wenn Ihre Stiefschwester für oder gegen ihn ist?» fragte er.

Sie beantwortete seine Frage nur indirekt. «Haben Sie schon von dieser Sache mit meinem Vater gehört?» Er nickte und sie fuhr fort. «Es war meine Schuld, verstehen Sie. Ich saß auf meinem Pferd, und er kam in die Ställe. Es war stockdunkel, Neumond wahrscheinlich, und er ist um das Pferd herumgegangen. Das Pferd bäumte sich plötzlich auf und schlug aus.» Vivian zog steif die Schultern hoch. «Er war auf der Stelle tot.»

«Das tut mir schrecklich leid.» Jury dachte einen Augenblick lang nach. «Sie sagten, Sie waren in Nordschottland?»

Sie nickte. «In den Highlands. Sutherland.»

«Und es waren nur drei Leute anwesend – Sie, Ihr Vater und Isabel?»

«Ja. Und eine uralte Köchin. Sie ist inzwischen gestorben.» Vivian starrte auf die unberührte Flüssigkeit in ihrem Glas, als würden sich die Gesichter von damals darin spiegeln.

«Wie hat sich Ihre Schwester – Ihre Stiefschwester – mit Ihrem Vater verstanden?»

«Nicht besonders gut. Um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, sie hat ihm nie verziehen, daß sie nicht mehr Geld bekommen hat. Ich meine, daß er sie in seinem Testament nicht bedacht hat.»

«Aber warum hätte Ihr Vater einer Stieftochter, die er nur – wie lange denn? – drei oder vier Jahre gekannt hat, etwas hinterlassen sollen?»

«Ja, natürlich, das stimmt schon.» Vivian nahm sich eine Zigarette aus der Porzellandose. Ihre erste hatte sich in dem Aschenbecher in eine kleine Schlange aus Asche verwandelt. Sie wedelte mit der Hand, als wolle sie den Rauch der Vergangenheit vertreiben.

«Sie hatten Ihren Vater sehr gern, nicht wahr?» Sie nickte, den Blick noch immer gesenkt. Er vermutete, daß sie den Tränen nahe war. «Isabel erzählte mir, Sie seien nach dem Streit mit ihm zu den Ställen gerannt und hätten sich auf Ihr Pferd gesetzt. Können Sie sich daran tatsächlich noch erinnern?»

Sie machte einen verwirrten Eindruck. «Erinnern? Warum, ja, natürlich. Ich meine, nicht genau.»

«Man hat Ihnen das so erzählt, stimmt’s? Ihre –»

«Ein kleiner Umtrunk?»

Erstaunt drehten sich beide um. Keiner von ihnen hatte Isabel hereinkommen hören. Sie stand in der Tür zwischen den zerfließenden Schatten und sah sehr geheimnisvoll und attraktiv aus – wenn auch etwas zu herausgeputzt für Jurys Geschmack. Ein grüner Jagdanzug aus Samt, russischer Bernstein und dieser silbergraue Nerz, den sie sich nachlässig über die Schulter geworfen hatte. «Wie fühlen Sie sich heute abend, Oberinspektor Jury?»

Jury erhob sich und verneigte sich leicht. «Ausgezeichnet, Miss Rivington.»

Sie trat in das Zimmer, ließ den Nerz auf einen Stuhl fallen und ging zu dem Büfett. «Darf ich mich dazusetzen?»

«Ja, natürlich», sagte Vivian nicht gerade begeistert, wie Jury auffiel. Ihre moralische Verpflichtung Isabel Rivington gegenüber gab ihr wohl diesen leicht verkniffenen Zug um den Mund.

Isabel goß sich eine tüchtige Portion Bourbon ein, dem sie ein paar Spritzer Soda hinzufügte, und kam dann zu ihnen zurück, um ihren Arm um Vivian zu legen und sie an sich zu ziehen. Die Geste wirkte auf Jury eher besitzergreifend als zärtlich. Dann ließ sie sich auf das Sofa plumpsen und versetzte den Kissen hinter ihr ein paar Knüffe. «Ihr macht so lange Gesichter. Habt Ihr denn bei Melrose kein anständiges Essen gekriegt? Ihr hättet mal zu Lorraines Party gehen sollen – da ging es üppig zu.»

«Das Essen bei Melrose war wunderbar», sagte Vivian etwas schnippisch. Jury registrierte zufrieden den rebellischen Unterton.

«Simon war nicht gerade glücklich über deine Abwesenheit», fügte Isabel beiläufig hinzu.

Vivian sagte nichts.

«Unglücklicherweise war auch Pfarrer Denzil Smith da, und wir mußten uns den ganzen Abend lang seine Geschichten über geheime Verstecke für Priester und Schmuggler in den Gasthäusern an der Küste anhören. Und die Geschichte der Wirtshausschilder. Die Morde haben ihn sehr beflügelt. Die übrige Zeit sprachen wir über die arme, alte Ruby. Ist es nicht schrecklich! Der Pfarrer sagte, Sie hätten das Haus von oben bis unten nach irgendeinem Armband durchsuchen lassen. Und nach dem Tagebuch des Mädchens.»

Jury erwiderte nichts darauf. Er wünschte nur, diese Dörfler würden sich ihre Puste für ihren Porridge aufheben. Jury schaute auf seine Uhr. «Vielen Dank für den Drink. Ich muß jetzt gehen.»

Vivian begleitete ihn hinaus, und er war schon auf dem Weg zu seinem Morris, als sie ihm nachrief: «Warten Sie!» Sie rannte nach oben und kam mit einem schmalen Bändchen zurück, das sie ihm hinstreckte. «Ich weiß zwar nicht, ob Sie sich für Lyrik interessieren … aber jemand, der Virgil zitiert, muß wohl …»

Er betrachtete den Band – eine Broschüre mit einem Umschlag aus dickem dunklem Papier, dessen Titel er in der Dunkelheit nicht lesen konnte. «Ja, ich mag Gedichte. Haben Sie das geschrieben?»

Sie war sichtlich verwirrt und schien überallhin zu blicken, nur nicht auf ihn. «Ja. Diese Gedichte sind von mir. Sie kamen vor drei oder vier Jahren heraus. Nicht gerade ein Bestseller, wie Sie sich wohl denken können.» Als er nicht antwortete, redete sie rasch weiter, als wolle sie den Raum zwischen ihnen ausfüllen. «Aber Sie haben wohl keine Zeit, neben Ihren Berichten noch etwas anderes zu lesen. So viele Gedichte sind es zwar auch nicht – ich produziere gar nicht so viel. Ich meine, überhaupt nur eines zu schreiben … es ist gar nicht so leicht.»

Sie verstummte, und Jury sagte: «Ich werde die Zeit dafür finden.»

Er verbrachte den Rest des Abends im Bett und las Vivians Gedichte. Sie waren keineswegs das Werk einer labilen, jungen Frau, die sich herumkommandieren ließ oder die sich davon abbringen ließ, den Mann zu heiraten, den sie heiraten wollte.

Und dann durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke – vielleicht war der springende Punkt der, daß Melrose Plant Vivian Rivington gar nicht heiraten wollte.

Das Buch fiel ihm aus der Hand, als er dann endlich einschlief. Daß jemand eine Frau wie Vivian Rivington nicht haben wollte, fand er einfach unbegreiflich.